Tomas Lundgren: Bilderatlas

17 März - 22 April 2023
Übersicht

„Rette etwas aus der Zeit, in der du nie wieder sein wirst“.

Wir freuen uns, Tomas Lundgrns erste Ausstellung in Deutschland präsentieren zu können:

 

Um sich selbst zu verstehen und warum das eigene Leben so aussieht, wie es aussieht, ist es nicht ungewöhnlich, auf alte Bilder zu schauen, um eine Erklärung zu finden. Schließlich ist die Gegenwart ein Ergebnis der Vergangenheit.

 

Fotografien sind seltsam: Im Nachhinein wirken sie so selbstverständlich, obwohl sie meist willkürlich entstanden sind. Wir behalten eine kleine quadratische Karte, die wir bequem in der Hand halten können. Aber bei der digitalen Technik hat sich etwas getan. Wir haben teilweise die Ehrfurcht vor der authentischen und persönlichen Tragfähigkeit der Fotografie verloren.

 

In Tomas Lundgrens sensibel ausgeführter Grisaille-Malerei, die sich an fotografischen Vorlagen orientiert, verschmilzt ein älterer dokumentarischer Aberglaube mit der heutigen skeptischeren Haltung gegenüber der Fotografie als Wahrsagerin. Das monumentale Werk „Ammit“ zeigt ein Detail eines Möbelstücks, das Anfang der 1920er Jahre im Grab des Tutanchamun gefunden wurde. Ammit war nach der ägyptischen Mythologie ein weiblicher Dämon, der die Menschen auffraß, die sich im Leben nicht benommen hatten und daher keinen Platz im Himmel verdienten. Tomas Lundgrens Darstellung dieser mythischen Figur erinnert ein wenig an die Schwarz-Weiß-Porträts vampirischer Filmstars zu Beginn der 1920er Jahre. Das lange, schmale Gesicht mit pechschwarzen Augen und weit aufgerissenem Maul wurde im Profil festgehalten. Sie ist fotorealistisch dargestellt, jedoch wird die detailreiche Darstellung durch ein dezentes Raster gestört. Die Methode des Künstlers: Er hat den größten Teil der Leinwand verdeckt und nur ein Quadrat auf einmal gemalt, ohne zu wissen, ob es nuanciert mit dem Rest des Gemäldes übereinstimmt. In der fertigen Arbeit sind daher interessante Fugen entstanden. Diese Verschiebungen erinnern nicht nur an die Pixel in digitalen Fotografien, sondern auch daran, wie einfach es geworden ist, Bilder an andere Menschen weiterzugeben und sich diese anzueignen, was auch Lundgren tut. Die Geschichte von Ammit wird schwindelerregend und anachronistisch. Die Distanzen zwischen den verschiedenen Zeiten und Orten scheinen geschrumpft zu sein.

 

In der Serie „Personæ“ macht sich Lundgren wieder mit Fotografien aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts vertraut, einer dramatischen Zeit, die unter anderem von zwei Weltkriegen geprägt war. Hier sind in sich gekehrte Porträts mehr oder weniger berühmter Persönlichkeiten, Modellstudien und Nahaufnahmen von Händen zu sehen, alles in einem abgetönten Braun-Grau-Ton. Die leicht angestaubte und matte Farbgebung strahlt Distanz und Abnutzung aus. Der Künstler hat direkt auf unbehandeltes Leinen gemalt und so scheinen uns die abgebildeten Menschen durch eine erhabene Membran entgegenzublicken. Aber meistens schauen sie weg und sind mit etwas beschäftigt, dem wir nicht ganz folgen können. Die Porträtgalerie enthält berühmte Namen: Ein hochbetagter und edler Sigmund Freud wurde von der Seite eingefangen und auch der genderübergreifende Künstler Gluck hat eine ähnliche Position bezogen. Aber hier sind auch Bilder, die etwas verstörender sind, auch wenn sie zunächst unschuldig wirken. Die Schülerinnen mit glänzenden Haaren, die säuberlich aufgereiht vor Heften sitzen, sind Mitglieder des Bundes Deutscher Mädel (eine nationalsozialistische Organisation für Mädchen) und der scheinbar harmlose Mann mit spärlichem Haaransatz, der gerade dabei ist, ein Dokument zu unterschreiben, der inhaftierte Nazi-Architekt Albert Speer. Alle Arbeiten in „Personæ“ haben etwas Unvollendetes an sich, was zu dem Eindruck beiträgt, dass die Porträtierten leider für eine Rückkehr bereit sein könnten.

 

Der Zeitaspekt ist ein wichtiger Eckpfeiler in Tomas Lundgrens künstlerischem Schaffen und so verwundert es nicht, dass er sich an Marcel Prousts Romanreihe „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ versucht hat. Indem er das handschriftliche Manuskript des Autors abschreibt, auch das von Hand, wird uns die unvollkommene Schönheit der Handschrift bewusst, die heutzutage in der übereffizienten modernen Welt verloren gegangen zu sein scheint. Diese Schriften zeigen auch, dass sich Werke niemals exakt gleich wiederholen lassen, es sei denn, sie werden von einer Maschine hergestellt, ständig entstehen neue Abweichungen und Bedeutungen.

 

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Lundgrens Farbfeldbilder mit gestapelten Monochromen nur auf sich selbst verweisen, aber sie basieren auf einem französischen Farbsystem von 1905, das zur Kategorisierung der Farben verschiedener Pflanzen verwendet wurde. Auch in diesem Fall bleibt uns eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten, die von massenproduzierten Farbmustern, aus denen man in einer Lackiererei wählen kann, bis hin zu dem Willen antiker Botaniker zu einer klinischen und fast kolonialistischen Kartierung reichen.

 

Als Bindeglied fungiert die neu produzierte Arbeit „Zeithof“, deren Titel den fragmentarischen Texten des Dichters Paul Celan entnommen ist. Reife Äpfel drängen sich um einen Ast, umgeben von Blättern und schweren Schatten. Die Bemalung erfolgt in einer braungrauen, entfernten Farbe. Äpfel haben vielfältige symbolische und religiöse Bedeutungen, vor allem werden sie meist mit Wissen und Verbotenem in Verbindung gebracht. Die Früchte sind also mehrdeutig. In einen Apfel zu beißen kann von zahlreichen Eindrücken begleitet werden, die nicht immer bequem sein müssen. Wissen kann zu Widerstand führen.

 

In dieser großzügigen Ausstellung, die nach dem Kunsthistoriker Aby Warburg „Bilderatlas“ betitelt wurde, spiegelt sich Tomas Lundgrens anhaltende Neugier auf vergangene Momente und deren Durchdringung des zeitgenössischen gesellschaftlichen Klimas wider. Das lineare Narrativ wird vermieden und ein hysterisches Assoziationswirrwarr entwirrt, obwohl die Werke so sachlich und sorgfältig ausgeführt sind. Die Kunst von Tomas Lundgren hat etwas mit der von Gerhard Richter gemeinsam. Er scheut keine ernsten Themen und konzentriert sich oft auf verräterische Bewegungen oder Menschen, die nachweislich großen Schaden angerichtet haben. Die schlimmsten Traumata des 20. Jahrhunderts laufen Gefahr, in Vergessenheit zu geraten, und wenn man bedenkt, wie rechts der Wind heute in Europa weht, scheinen wir bereits auf einem guten Weg zu sein. In seinen Gemälden verblassen die Motive vor unseren Augen, ein Spiegelbild dessen, was passiert, wenn man sich entscheidet, die Augen vor den Verbrechen der Geschichte zu verschließen. Gleichzeitig sind sie frei von diktierenden Hinweisen – dem Betrachter bleibt es überlassen, die Lücken selbst zu füllen.

 

Annie Ernauxs beendet ihre kollektive Autobiografie „The Years“ mit einem offenen Satz, der mich während der Zeit begleitet hat, in der ich diesen Text geschrieben habe: „Rette etwas aus der Zeit, in der du nie wieder sein wirst“. Tomas Lundgren gräbt ähnlich wie ein Archäologe nach diesen fernen Jahren. Aber anders als Ernaux hat er diese Jahre nicht selbst erlebt und seine Werke sind auch nicht autobiografisch. Die dabei entstehenden Scherben gleichen einem unzusammenhängenden Puzzle, einer sinnlichen und wertvollen Ergänzung zu den „großen Geschichten“, die uns aus den Geschichtsbüchern vertraut sind. Er lässt uns diese aus einem unerwarteten Blickwinkel sehen.

 

Sara Arvidsson
Kunstkritikerin und Schriftstellerin

 

Tomas Lundgren (geb. 1983 in Göteborg) wurde an der Valand School of Art in Göteborg ausgebildet, wo er 2013 seinen Abschluss machte. Er erhielt mehrere Stipendien, darunter das Fredrik-Roos-Stipendium im Jahr 2014, das Becker-Künstlerstipendium im Jahr 2016 und die Künstlervereinigung. Lundgren hat an mehreren Einzel- und Gruppenausstellungen teilgenommen, unter anderem in der Röda Sten Art Hall, im Moderna Museet in Malmö und im Dalslands Art Museum. Er ist in privaten und öffentlichen Sammlungen vertreten, darunter die SEB-Sammlung, die Ståhl-Sammlung, das Göteborger Kunstmuseum, das Moderna Museet und das Statens Konstråd. Die Ausstellung Bilderatlas ist seine erste Ausstellung in Deutschland.

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